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Rezension: Salz für die See (Ruta Sepetys)

Salz für die See (Ruta Sepetys, Königskinder)

Ein polnisches Mädchen, eine litauische Krankenschwester, ein preußischer Deserteur und ein feiger Marinesoldat – auf den ersten Blick haben die vier Protagonisten in »Salz für die See« nicht viel gemeinsam. Bis auf eines: Sie sind auf der Flucht vor den Wirren und Grausamkeiten des Zweiten Weltkriegs, jeder auf seine Weise und mit seiner ganz eigenen Schuld beladen.

Ruta Sepetys konnte mich schon 2012 mit Ihrem Roman »Und in mir der unbesiegbare Sommer« begeistern, der die sibirischen Gefangenenlager Stalins im Zweiten Weltkrieg zur Grundlage einer emotional ergreifenden Handlung nahm. Auch in »Salz für die See« widmet sich die Autorin wieder diesem dunklen Abschnitt der Geschichte, dieses Mal speziell dem Untergang der Wilhelm Gustloff – einer der verheerendsten Schiffskatastrophen seit Menschengedenken.

Nationalsozialisten, Hitler, Konzentrationslager und Judenverfolgung – all das ist den meisten von uns mindestens aus dem Geschichtsunterricht bekannt und war auch schon oft Gegenstand von Romanen. Dass am 30. Januar 1945, nur wenige Monate vor Ende des Krieges, über 9.000 Menschen bei der Versenkung eines Flüchtlingsschiffes in der Ostsee ihr Leben ließen, wird dagegen selten besprochen. Tatsächlich war auch mir der Name Wilhelm Gustloff kein Begriff, bevor ich »Salz für die See« in den Händen hielt. Aber es ist nicht das erste Mal, dass Ruta Sepetys mich mit einem Roman nicht nur zum Nachdenken, sondern zum Nachforschen bringt, und es wird hoffentlich auch nicht das letzte Mal gewesen sein.

Die Wilhelm Gustloff war schwanger mit den vielen verlorenen Seelen, die der Krieg hervorgebracht hatte. Sie würden sich im Schiffsbauch drängen, und das Schiff wäre die Gebärerin ihrer Freiheit und Sicherheit.

1945 sind zahllose Menschen auf der Flucht. Die einen fliehen vor Hitler, die anderen vor Stalin. Letztere sind bei eisigen Januartemperaturen auf dem Weg in Richtung Ostsee, nach Gotenhafen, wo mehrere Schiffe auf sie warten und sie »heim ins Reich« bringen sollen. Doch der Befehl zur Evakuierung kommt viel zu spät und so sitzt der Krieg den Flüchtenden beständig drohend im Nacken.

Ruta Sepetys betrachtet die flüchtenden Menschen in »Salz für die See« aber nicht als eine große graue Masse, sondern pickt für den Leser drei Schicksale im Besonderen heraus. Das polnische Mädchen Emilia, die litauische Krankenschwester Joana und den preußischen Kunstrestaurator Florian. Abwechselnd erzählt sie aus ihrer Sicht und zeigt den Kriegsalltag aus der Perspektive viel zu junger Menschen verschiedener Nationalitäten, die alles verloren haben, was sie liebten: ihre Heimat, ihre Familien, sich selbst.

Dass die Wege der drei sich kreuzen, ist Zufall, gegenseitiges Vertrauen schwierig. Denn wer zu viel von sich selbst preisgibt, lebt gefährlich. So öffnen sich die Protagonisten auch dem Leser nur langsam und erzählen anfangs nur zwischen den Zeilen von ihren Geheimnissen. Sie leben mit Angst, Scham und Schuld und auch, wenn sie alles zurücklassen mussten, tragen sie diese Päckchen immer mit sich – und die wiegen schwerer als jedes Gepäck.

Salz für die See Kapitelüberschriften

Und doch sind die drei und ihre kleine Gruppe an Mitreisenden aufeinander angewiesen. Immer wieder stehen sie vor der Wahl, einander zu helfen oder die anderen im Stich zu lassen, aus Angst davor, welche Konsequenzen die gegenseitige Hilfe haben könnte. Durch viele menschliche Entscheidungen bringen sie immer wieder einen Hoffnungsschimmer und ein wenig Wärme in die dunklen, eisigen Kriegsnächte.

Ruta Sepetys zeigt aber auch schonungslos die Abgründe der menschlichen Natur, besonders in der vierten Figur Alfred, dem feigen Matrosen, der sich in jeder Situation selbst der Nächste ist, egal wie viel Elend ihn gerade umgibt. In imaginären Briefen an seine heimliche Liebe brüstet er sich als führertreuer Held, während der Leser ihn als fanatisierten Möchtegern kennenlernt, der in mir mit jedem Kapitel mehr Abscheu weckte.

Die Leute ahnten vermutlich nicht, dass das Schiff auf den Namen eines Toten getauft worden war. Mein Vater hatte mir von ihm erzählt. Wilhelm Gustloff war der Anführer der Schweizer Nazis gewesen.
Man hatte ihn ermordet. Dieses Schiff war eine Ausgeburt des Todes.

Aber zwischen aller Grausamkeit und Düsternis schaffte es die Autorin trotzdem, dass ich mit den Protagonisten mitfieberte, litt und ihnen wider besseres Wissen eine Zukunft, ein gutes Ende wünschte. Atemlos hat sie mich mit den Flüchtenden vorangetrieben und ebenso wie sie konnte ich beim Lesen kaum innehalten, musste weiter und weiter, Seite um Seite, in der Hoffnung, dass das Elend um die Protagonisten herum doch endlich ein Ende nehmen möge und sie so etwas wie Sicherheit finden würden. Dass es diese Sicherheit für keinen von ihnen geben konnte, war mir dabei von Anfang an klar, doch genauso wie die Protagonisten wollte ich die Hoffnung nicht aufgeben, das Unvermeidliche nicht wahrhaben, bis zum Schluss.

Interessanterweise war es besonders das letzte Kapitel, das Jahre nach der Katastrophe spielt, das mich am meisten berührte. Dieses vor vollendete Tatsachen gestellt Sein, die Gewissheit, wer die Schicksalsnacht überlebt hat – und wer nicht. Dazu kommt das Nachwort der Autorin, das genauso aufwühlt und nachdenklich macht wie der Roman selbst. Schon bei »Und in mir der unbesiegbare Sommer« hallte dieser Teil des Buches noch lange nach.

Wir dürfen nicht zulassen, dass die Wahrheit mit dem Tod der Überlebenden und Zeitzeugen verschwindet.
Bitte gebt ihnen eine Stimme. Im Nachwort der Autorin

Genau das tut Ruta Sepetys: Sie gibt den Opfern und den Überlebenden aller Nationen eine Stimme und ein Gesicht, lässt uns ihre Schicksale nachvollziehen oder zumindest erahnen. Dazu nutzt sie kurze Kapitel, die mal einzelne Szenen, manchmal nur Augenblicke erzählen, selten mehr. Diese Kürze und die abrupten Enden sind oft schmerzhaft und damit umso eindrücklicher.

Gleichzeitig hatte ich das Gefühl, dass jedes Wort in den knappen Szenen sorgfältig gewählt wurde. Ruta Sepetys weiß genau, wann es mehr Worte braucht und wo nur einen einzigen Satz. Beim Lesen hatte ich das gewaltige Tosen der Ostseewellen im Ohr, die Schreie der hilflosen Menschen – der Geretteten wie derer, die das Schiff mit in die Tiefe reißen sollte – und mehr als einmal musste ich das Buch zur Seite legen, durchatmen und die Gänsehaut besiegen, die mir die Arme hinaufgekrochen war.

Salz für die See Prägung auf dem Einband

»Salz für die See« ist für mich ein Roman, der zwar fiktiven Figuren folgt, dabei aber eindringlicher war als die meisten Dokumentarfilme oder Bilder aus den Nachrichten. Die Autorin, die selbst litauische Wurzeln hat, schreibt an gegen das Vergessen und die Verdrängung, schreibt für die Erinnerung an die Menschlichkeit in uns. Etwas, das in den letzten Jahren vielleicht wichtiger geworden ist, als wir uns bewusst machen.

Salz für die See Cover

 

Ruta Sepetys
Salz für die See

 

Originaltitel: Salt to the Sea
übersetzt von Henning Ahrens
Königskinder, 2016
Hardcover, 416 Seiten
ISBN: 978-3-551-56023-0

Mehr zum Buch:

Weitere Stimmen zu »Salz für die See« findet ihr auf folgenden Blogs:

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9 Kommentare

  1. Liebe Jasmin,

    eine wunderbare Rezension, die diesem großartigen Buch absolut gerecht wird, wie ich finde! Vor allem beim Lesen der letzten drei Abschnitte saß ich nickend da, auch wenn es uns wohl in vielen Punkten sehr ähnlich ging, wenn ich mir so meine eigene Rezension betrachte. 🙂
    Was du über “Und in mir der unbesiegbare Sommer” schreibst, klingt übrigens auch sehr interessant! Vielleicht schaue ich mir das Buch jetzt auch einmal an – danke für den Hinweis!

    Viele liebe Grüße,
    Elena

    • Hallo Elena,

      vielen lieben Dank! Ich war mir nicht sicher, ob man so einem Buch überhaupt mit einer Rezension so ganz gerecht werden kann. 🙂

      Ich habe mir gerade deine Rezension durchgelesen und finde es spannend, wie ähnlich unsere Gefühle und Gedanken beim und nach dem Lesen offenbar waren. Übrigens war der Schuh-Poet auch meine absolute Lieblingsfigur im Buch, die ich am wenigsten von allen gehen lassen wollte.

      »Und in mir der unbesiegbare Sommer« geht ja thematisch in eine ähnliche Richtung. Etwas anders scheint mir »Ein Glück für immer« aufgestellt zu sein, das ich noch nicht kenne. Es wird aber sicher auch noch bei mir einziehen, in der Hoffnung, dass es mich genauso mitnehmen wird.

  2. Hallo,

    es freut mich, dass dir das so gut gefallen hat. Die Geschichte hat einfach viele begeisterte Leser verdient finde ich.

    Ich hatte beim Lesen ganz ähnliche Gefühle wie du. Und auch den Wunsch nach einem guten Ende hatte ich auch. Eigentlich paradox, weiß man doch von Anfang an dass es kein gutes Ende nehmen kann. Aber ich finde die Autorin bringt einfach die Hoffnung auf Rettung der Protagonisten so gut rüber, dass sich das irgendwie überträgt.

    Liebe Grüße
    Julia

    • Hallo Julia,

      die Geschichte sollte unbedingt mehr Leser haben, da bin ich ganz deiner Meinung. Und nicht begeistert bzw. berührt zu sein, ist bei dem Buch auch wirklich ziemlich schwer. Dass man da den liebgewonnenen Figuren ein gutes Ende wünscht, obwohl man genau weiß, auf welche Katastrophe die Geschichte zusteuert, spricht nur zusätzlich für das Buch und die Autorin. Abgesehen davon fand ich trotzdem nicht vorhersehbar, für welche Figur die Geschichte wie ausgeht (bis auf Alfred vielleicht). Diese Reihe aus kurzen Hoffnungsschimmern behielt die Geschichte ja bis kurz vor Schluss aufrecht, vielleicht hat mich gerade deshalb das letzte Kapitel mit dem Brief so aufgewühlt. Weil es an der Stelle dann eben endgültig ist.

  3. RoM sagt

    Aloha, Jasmin.
    Weil eine Flucht vor der anrückenden Front lange offiziell als Verrat deklariert war (*), führte der dann geballt einsetzende Flüchtlingsstrom ( im tiefsten Winter) zum verschuldeten Chaos. Ein Platz auf einem Schiff/U-Boot versprach dann einzig die Rettung; oder wie im Fall der Menschen auf der “Wilhelm” den sicheren Tod.

    Stimmt, in der drohenden Gefahr offenbart sich der innere Kern des Charakters. Ob Gutes im Ansturm der Egoismen besteht – selbst wenn in Rudimenten nur.
    Besagter Matrose Alfred ist hier wohl die klassische Kehrtwende des Humanismus, die in den tiefbraunen Jahren lernte obenauf, beim charakterlichen Unrat zu schwimmen. Bezeichnenderweise sind es dann eben diese, die einen Weg finden zu überleben – nur um sich nach der “Stunde Null” erneut, auf Kosten anderer, schadlos zu halten.

    Bezeichnend wohl auch, dass es dem Kommandanten des versenkenden U-Boots in der Hauptsache um die Aussicht auf den Quadratmeter Ordenblech auf der Brust ging.

    bonté

    (*) zumeist von den lokalen “Obernazis” propagiert, die bei Nacht & Nebel als erste das Weite suchten.

    • Hallo RoM,

      oje, deinen Kommentar habe ich ja völlig verpasst, entschuldige!

      Dass die Flüchtenden anfangs zurückgehalten werden und deshalb heimlich durch die verschneiten Wälder ziehen, wird im Buch auch beschrieben. Vermutlich wäre man auch gar nicht rechtzeitig zu den Schiffen gekommen, wenn man erst mit dem Evakuierungsbefehl aufgebrochen wäre.

      Alfred ist sich vor allem selbst der Nächste. Außerdem auch noch faul und zu fein, sich die Hände schmutzig zu machen, um anderen zu helfen. “Charakterlicher Unrat” trifft es da wirklich gut. Wie der Roman für ihn ausgeht, lasse ich hier mal offen, es soll ja für niemanden gespoilert werden. 😉

    • RoM sagt

      …sowas soll bei all der Arbeit in einem neuen Haus durchaus vorkommen; der unerledigte Part blickt einen ja auch immer aus einer neuen Ecke vorwurfsvoll an.
      Ei wird sich wohl einen Schweberoller zugelegt haben, für seine Kurierfahrten auf allen drei Etagen. 🙂

      Etwas ohne schriftlich vorlegbaren Befehl zu tun, konnte in den letzten Kriegsmonaten tödliche Folgen haben. Selbst nach der Kapitulation hat die Marine, in den letzten Kriegstagen vor einem sinnlosen Frontbefehl geflohene Matrosen, noch abgeurteilt & hingerichtet.
      Bernhard Wickis ‘Die Brücke’ offenbart schonungslos den Irsinn dieser letzten Tage.

      Es gehörte oft Mut dazu, ein weißes Bettlaken aus dem Kirchturm seines Dorfs zu hängen.

      bonté

  4. Ich möchte deine Rezension genau so unterschreiben! Die Autorin versteht es wirklich, historische Geschehnisse anschaulich zu machen, so dass sie einem richtig unter die Haut gehen. Den Epilog und vor allem ihr Nachwort fand ich auch sehr berührend. Das wird garantiert nicht das letzte Buch gewesen sein, was ich von ihr gelesen habe.

    • Hallo Friedelchen!

      Es freut mich, dass du hier vorbeischaust und dass es dir beim Lesen der Ruta-Sepetys-Bücher offenbar genauso geht wie mir. Ich bin ja gar kein sooo großer Fan von historischen Romanen, aber Ruta Sepetys schafft es, mich zu fesseln und vor allem zu berühren. Und selten fand ich das Nachwort genauso interessant wie den Roman selbst – bei dieser Autorin nun aber schon zum zweiten Mal. Nun steht noch »Ein Glück für immer« auf meiner Wunschliste. Bei mir wird es also auch nicht das letzte Buch von ihr gewesen sein, da haben wir noch was gemeinsam. 🙂

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