
Meine Schwester lebt auf dem Kaminsims
Originaltitel: My Sister lives on the Mantelpiece
Goldmann
1. Auflage, Mai 2012
Hardcover
Seiten: 220
ISBN: 978-3-442-31253-5
Inhalt
Der zehnjährige Jamie hatte eine Schwester namens Rose, aber wirklich erinnern kann er sich nicht mehr an sie. Seit sie vor fünf Jahren durch einen terroristischen Anschlag in London ums Leben kam, steht ihre Asche in einer Urne auf dem Kaminsims. Und seit diesem Tag ist seine Familie nicht mehr dieselbe. Sein Vater versinkt in Trauer, trinkt, um nicht daran denken zu müssen, und vergisst dabei, dass er noch zwei Kinder hat, die leben. Jamies Mutter hat das irgendwann nicht mehr ertragen und die Familie verlassen, um weit weg mit einem anderen Mann zu leben. Nur Jamies große Schwester Jas kümmert sich um ihn. Dabei hat sie ihre ganz eigenen Probleme und die fehlende Aufmerksamkeit ihrer Eltern kann auch sie nicht ersetzen.
Erst als Jamie in der Schule Sunya kennenlernt, wird alles anders – wenn auch nicht unbedingt einfacher.
Meine Meinung
»Meine Schwester lebt auf dem Kaminsims« war eine Zufallsentdeckung in meinen Amazon-Empfehlungen. Der Titel ist einer von der Sorte, die mich magisch anziehen, und auch der Klappentext klang ziemlich interessant, weshalb das Buch beim nächsten Einkauf in der Buchhandlung unbedingt mitbestellt werden musste. Der Kauf hat sich definitiv gelohnt!
Ich-Erzähler Jamie ist gerade mal zehn Jahre alt, aber er hat schon mindestens so viele Sorgen wie ein Erwachsener. Seit seine Schwester Rose vor fünf Jahren bei einem Bombenattentat starb, ist seine Familie keine richtige Familie mehr: seine Eltern werden mit ihrer Trauer um Rose nicht fertig und da jeder von ihnen auf seine Weise damit umgehen will, wird selbst Roses Asche aufgeteilt – ein Teil liegt in einem Grab auf dem Friedhof, der andere in einer Urne auf dem Kaminsims, weil sich der Vater nicht davon trennen kann. Jedes Jahr nimmt er sich vor, Roses Asche ins Meer zu streuen. Jedes Jahr scheitert er daran. Jamies Mutter sucht ihren Ausweg in der Flucht und verschwindet mit einem anderen Mann, ohne sich auch nur einmal bei ihren beiden verbliebenen Kindern zu melden. Schließlich trifft Jamies Vater eine Entscheidung: zusammen mit Jamie und seiner großen Schwester Jas will er umziehen und an einem neuen Ort und in einem neuen Haus einen Neuanfang machen.
Doch eigentlich wird gar nichts anders. Der schüchterne Jamie findet in der neuen Schule wieder keine Freunde und auch zu Hause ändert sich nichts. Sein Vater trinkt immer noch, um seinen Kummer zu vergessen, und vergisst dabei auch seine Pflichten als Elternteil.
Als Jamie zu seinem Geburtstag von seiner Mutter ein Spider-Man-T-Shirt geschickt bekommt, schöpft er Hoffnung. Seine Mutter hat sich endlich gemeldet. Und sie wird ihn besuchen kommen! Vielleicht wird dann endlich alles wieder gut … Wochenlang trägt Jamie das Shirt, ohne es zu waschen. Er hat Angst, dass seine Mutter ausgerechnet dann vor der Tür stehen könnte, wenn er es auszieht und dann wäre sie vielleicht enttäuscht.
So sieht man als Leser durch die kindlichen Augen von Jamie und verfolgt, wie er immer wieder von der Welt der Erwachsenen enttäuscht wird. Seine Mutter taucht auch nach Wochen nicht auf, lässt nichts von sich hören und dennoch will Jamie Hoffnung nicht aufgeben. Als Leser zerreist es einem an manchen Stellen fast das Herz, wenn man miterleben muss, wie Jamies Vater immer und immer wieder alles kaputtmacht, weil er so tief in seiner Trauer versunken ist, dass er seine beiden lebenden Kinder kaum noch wahrnimmt.
So leidet und hofft man mit Jamie, nicht zuletzt, weil einem der kleine Junge so schnell ans Herz wächst. Er versteht die Welt nicht mehr und vor allem kann er nicht verstehen, wieso jeder von ihm erwartet, dass er um Rose trauern soll – um eine Schwester, an die er kaum Erinnerungen hat. Jamie trauert nicht um Rose. Er trauert um die Familie, die er durch ihren Tod verloren hat.
Auch die anderen Charaktere lassen einen beim Lesen nicht mehr los. Ganz besonders Jasmine, Jamies fünfzehnjährige Schwester und außerdem die Zwillingsschwester von Rose. Man würde meinen, dass sie am meisten um Rose trauern müsste, doch sie geht viel erwachsener damit um als ihre Eltern. Sie ist es, die ein Stück weit die Mutterrolle für Jamie übernimmt und ihm immer wieder Kraft gibt, obwohl es ihr selbst nicht besser geht. Sie isst kaum noch etwas und versucht alles, um sich endlich aus dem Schatten ihrer toten Zwillingsschwester zu befreien.
Zu guter Letzt ist da noch Sunya. Sie ist die einzige, die sich in der Schule mit Jamie anfreundet. Sie ist nett, witzig und mit ihrem flatternden Kopftuch für Jamie eine richtige Superheldin. Aber Sunya ist Muslimin. Jamie weiß, dass es so etwas wie Hochverrat ist, sich ausgerechnet mit einer Muslimin anzufreunden, wo es doch muslimische Terroristen waren, die seine Schwester töteten. Trotzdem – Jamie mag Sunya gern. Und deshalb hält er ihre Freundschaft vor seinem Vater geheim. Bis das nicht nur in der Familie für neuen Ärger sorgt, sondern auch die Freundschaft mit Sunya zu zerbrechen droht und Jamie plötzlich mehr Probleme hat als zuvor.
Annabel Pitcher liefert mit »Meine Schwester lebt auf dem Kaminsims« einen sehr bewegenden Roman, der den Leser durch alle emotionalen Höhen und Tiefen mitnimmt, gerade weil man als Erwachsener so viel mehr in den Geschehnissen erkennen und verstehen kann als der zehnjährige Erzähler Jamie.
Der Roman behandelt wichtige Themen wie Tod und Trauer, Mut und Zusammenhalt, Freundschaft und die kleinen und großen Kämpfe, den man manchmal darum ausfechten muss; aber auch Fremdenhass und Toleranz, Vorurteile und gegenseitiges Verstehen.
Und am Ende ist es ausgerechnet ein weiterer Abschied, der die Familie wieder zusammenwachsen lässt.
Fazit
Ein bewegender Roman, der aus vielen Gründen zu Tränen rührt und aus mindestens ebenso vielen zum Lächeln bringt.
Grüß Dich, Moena.
Ein Buch über große Themen für einen kleinen Jungen. Verdammt große Themen, denn ein Kind kann an dieser Art der Lieblosigkeit zerbrechen.
Zentrum der tragischen Kettenreaktionen ist der Vater, der sein Leben quasi zum Altar seiner selbstbezogenen Trauer macht. Aber wodurch hat seine Familie dies verdient?
Du schreibst treffend, daß die wahren Verantwortungsvollen hier die Kinder sind.
Ein Buch, das sich zudem Anhänger der Liga selbstgerechter Bombenleger weltweit durchlesen könnten. Sinnvoller als alle Abgründe der Heimtücke wäre es ja.
Ein Buch in alle Richtungen!
bonté
Die "Anhänger der Liga selbstgerechter Bombenleger" als Zielgruppe zu sehen, kam mir noch gar nicht in den Sinn. Sollte man vielleicht zur Pflichtlektüre in deren Schulen machen. Aber ob die dafür Zeit finden? Hmm.