
Der Märchenerzähler
Oetinger
1. Auflage, 2011
Hardcover
Seiten: 446
ISBN: 978-3-7891-4289-1
Abel Tannatek ist ein Außenseiter, ein Schulschwänzer und Drogendealer. Wider besseres Wissen verliebt Anna sich rettungslos in ihn. Denn sie weiß, dass es noch einen anderen Abel gibt: den sanften, verletzlichen Jungen, der für seine kleine Schwester sorgt und der ein Märchen erzählt, das Anna tief berührt. Doch die Grenzen zwischen Realität und Fantasie verschwimmen. Was, wenn das Märchen gar kein Märchen ist?
»Der Märchenerzähler« ist ein wunderschönes Buch, das ich mir auf Empfehlung meiner ehemaligen Kollegin gekauft habe. Dicke Jugendbücher mit verträumten Covern ziehen mich ja immer magisch an und für die Semesterferien war das genau das Richtige.
Erzählt wird die Geschichte meist aus der Sicht von Anna. Sie ist eine gute Schülerin, kommt aus einem guten Elternhaus (wobei ich mich die ganze Zeit fragte, warum die Eltern immer bei ihren Vornamen genannt werden), spielt Klavier und Querflöte und ist auch sonst ein ganz normales Mädchen. Mit ihrer besten Freundin Gitta bespricht sie alles – auch, dass sie mit siebzehn Jahren immer noch keinen Freund hatte.
Doch das soll sich bald ändern, als sie den polnischen Mitschüler Abel kennenlernt. Der unauffällige und von allen anderen belächelte Junge weckt Annas Interesse und sie bemüht sich darum, hinter die düstere Fassade zu blicken. Sie hört mit an, wie Abel seiner kleinen Schwester ein Märchen erzählt und ab hier beginnt die Geschichte nicht nur spannend zu werden, sondern vor allem zu bezaubern. Denn nun wechseln sich Abels Märchenszenen – die allein schon ein wunderschönes Buch ergeben hätten – mit Szenen aus der Realität ab und schnell wird klar: Das Märchen ist nicht einfach nur ein Märchen. Es ist viel mehr als eine erfundene Geschichte. Denn mit ein bisschen Fantasie findet man die Märchenfiguren auch außerhalb des Märchens wieder und erkennt dabei gemeinsam mit Anna Stück für Stück die Zusammenhänge dahinter.
Als dann zwei Morde passieren, die mit der Geschichte von Abel und Micha in Zusammenhang stehen, wird Anna unsicher. Hat sie sich in einen Mörder verliebt? Will ihm jemand etwas in die Schuhe schieben, das er nicht getan hat?
Hier schafft es die Autorin, den Leser aufs Glatteis zu führen. Das Offensichtliche möchte man nicht glauben und die vielen kleinen Details deuten auf etwas anderes hin. So ist die Auflösung am Ende dann doch wieder überraschend und das Ende an sich vor allem sehr, sehr traurig, trotz des Hoffnungsschimmers am Horizont.

Selten habe ich ein Buch gelesen, das mich so gefesselt und so sehr berührt hat wie dieses. Antonia Michaelis ist es gelungen, eine Atmosphäre aufzubauen, die mich ziemlich schnell in ihren Bann zog und mich danach einfach nicht mehr loslassen wollte. Einerseits natürlich durch das Märchen, das Abel erzählt und bei dem man von Szene zu Szene mehr mitfiebert und unbedingt wissen muss, wie es ausgehen wird. Zum anderen aber auch durch die gelungenen Charaktere.
Anna selbst ist eher unscheinbar und ›normal‹. Sie grübelt sehr viel und versucht immerzu hinter die äußere Fassade zu blicken, was sie für mich sympathisch machte. Abel ist fast ein wenig klischeehaft – harte Schale, weicher Kern. Aber sein Talent zum Märchenerzählen macht ihn einzigartig und passt trotz allem wunderbar zu ihm. Dann ist da noch Annas beste Freundin Gitta, die so ziemlich das Gegenteil von Anna ist – das ausgeflippte Partygirl, natürlich mit Unmengen Erfahrung, was Jungs angeht. Dabei ist sie aber gleichzeitig so liebenswert, dass man sie irgendwie gernhaben muss, vor allem, weil sie trotz allem für Anna da ist.
Ganz besonders aber mochte ich die kleine Micha, Abels Schwester, die auch in seinem Märchen die Hauptrolle spielt. Sie ist ein echter Sonnenschein in der traurigen Atmosphäre – was den Emotionsfaktor natürlich noch mal um Einiges erhöht.
Dazu kommt Antonia Michaelis’ einfacher, aber bezaubernder Schreibstil, mit dem die Geschichte trotz aller Spannung ruhig daherkommt und der die Märchensequenzen zu einem absoluten Lesevergnügen macht, sowie die geschickt erzählte Handlung, bei der einfach alles zusammenpasst und keine offenen Enden übrig bleiben, wo keine hingehören.
Alles in allem ein wirklich wunderschönes Buch für alle, die gern märchenhafte Geschichten lesen und dabei auch mal auf ein hundertprozentiges Happy End verzichten können.
Ich fand das Buch auch echt gut. 🙂
LG Jessica
Das war eins meiner Lieblingsbücher im letzten Jahr. 🙂